Schule
Mediengestützter Unterricht:
Digitale Kompetenz ist gefragt
Prof. Dr. Katharina Scheiter, Leiterin der Arbeitsgruppe Multiple Repräsentationen, über digitale Kompetenzen und die Schule der Zukunft
Frau Professorin Scheiter, stellen wir uns vor, Schülerinnen und Schüler erleben einen Vulkanausbruch durch eine VR-Brille, statt sich Abbildungen im Schulbuch anzusehen. Wie realistisch ist das Szenario und wie bewerten Sie es mit Blick auf den Lerneffekt?
Scheiter: Zwischenzeitlich findet man an gut ausgestatteten Schulen durchaus Virtual-Reality-Anwendungen als Unterrichtsmedium. Die Herausforderung besteht jedoch in ihrer didaktischen Einbettung. Unsere Forschung zeigt, dass es wenig sinnvoll ist, schematische Abbildungen in einem Buch durch erfahrungsorientierte Darstellungen einfach zu ersetzen. Die hoch-realistische Darstellung und das Erleben auf der einen braucht immer auch die Erklärung auf der anderen Seite. Um im Beispiel zu bleiben: Unsere Schülerinnen und Schüler werden von der virtuellen Darstellung zwar sehr beeindruckt sein, aber im Zweifelsfall wenig erfahren über den Aufbau eines Vulkans.
Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit digitale Medien die klassische Lehr-Lern-Situation lernförderlich ergänzen und verändern?
S_ Multimedialität und Interaktivität sind klare Vorteile digitaler Medien. Sie bieten neue Zugänge zu Informationen, ermöglichen kollaboratives Arbeiten und sorgen dafür, dass die Lernenden nicht nur rezipieren, sondern aktiv mitgestalten. Im speziellen Bildungskontext der Schule geht es allerdings nicht darum, mit digitaler Unterstützung ein Programm ablaufen zu lassen, auf dessen Grundlage sich die Schülerinnen und Schüler die Inhalte dann selbst reguliert erarbeiten. Die Lehrkräfte müssen in der Lage sein zu entscheiden, welche Medien sich für ihr Ziel der Wissensvermittlung eignen, entsprechend unterschiedliche Lerngelegenheiten schaffen und dabei auch analoge und digitale Instrumente kombinieren. Und sie müssen nicht nur damit unterrichten, sondern ihre Schülerinnen und Schüler auch anleiten können, mit diesen Medien umzugehen. Die Handhabung digitaler Medien ist eine Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts, die für das Lernen wichtig ist und darüber hinaus eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Den Nachwuchs hierin zu befähigen, ist eine wichtige Aufgabe von Bildungsinstitutionen. Die Annahme, dass die als Digital Natives bezeichnete Generation von Lernenden diese digitale Kompetenz bereits mitbringen, können wir nicht bestätigen.
Das IWM betreibt mit dem TüDiLab ein digitales Unterrichtslabor. Was kann man sich darunter vorstellen und wie fördert es die Medienkompetenz von Lehrenden?
S_ Das TüDiLab ist zum einen ein Forschungsort. Wir laden Schulklassen ein, um den Unterricht mit digitalen Medien zu analysieren. Zum anderen nutzen wir das „virtuelle Klassenzimmer“ im Rahmen des Lehramtstudiums. Das Labor bietet einen geschützten Raum, in dem sich Lehramtsstudierende niederschwellig mit digitalen Medien für Unterrichtszwecke vertraut machen und diese erproben können. Wir sehen hier auch, dass der Einsatz digitaler Werkzeuge und Methoden bereits im Lehramtsstudium eine zentrale Rolle spielen muss. Insofern ist die Zielgruppe der Lehrkräfteausbildenden zentral für die Vermittlung digitaler Kompetenzen an die nächsten Generationen von Lehrkräften. Aktuell beteiligen wir uns am Forschungsprojekt „Digi-EBF“, das sich um die Digitalisierung im Bildungsbereich kümmert. Der Fokus im Teilvorhaben des IWM liegt darauf, die speziellen Anforderungen von Lehrkräfteausbildenden unter anderem mit Dialog- und Expertenforen, Reviews über den Forschungsstand und Messverfahren zur Evaluation von digitaler Hochschullehre konkret und praxisnah zu unterstützen.
Digitale Lehrmaterialien versprechen Entlastung, weil sie skalierbar sind. Wie verändert sich die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer?
S_ Die Idee der Entlastung ist tatsächlich ein Leitgedanke. Aktuell ist es allerdings noch eher so, dass der Einsatz digitaler Unterrichtsmaterialien von den Akteurinnen und Akteuren gegenteilig wahrgenommen wird. Das hat damit zu tun, dass die Dinge häufig technisch nicht so funktionieren, wie sie sollten. Auch fehlt es an didaktischen Konzepten, um digitale Medien routiniert einzusetzen. Hier ist dann viel Zusatzaufwand notwendig, und es braucht im Zweifel einen analogen Backup-Plan. Aber wir sind technisch und didaktisch auf einem guten Weg. Idealerweise werden Lehrkräfte dann vor allem den Lernprozess unterstützen, die Materialauswahl treffen und beratend tätig sein. Dennoch sind sie auch in Zukunft mehr als reine Coaches, denn sie müssen weiterhin sehr gutes fachliches und fachdidaktisches Wissen mitbringen.
Sie beteiligen sich ganz konkret an der Ausgestaltung digitaler Unterrichtsmaterialien. Was verbirgt sich beispielsweise hinter dem Projekt „eChemBook“?
S_ Mit dem „eChemBook“, das wir gemeinsam mit einem Schulbuchverlag aufsetzen, wollen wir alle wissenschaftlichen Befunde, die wir zur Gestaltung digitaler Lernmaterialien haben, in die Praxis tragen: Was gibt es aus wissenschaftlicher Sicht unter Berücksichtigung fachdidaktischer Überlegungen bei einem digitalen Schulbuch zu beachten? Wo liegen die Potenziale eines solchen Mediums? Bereits existierende digitale Schulbücher der traditionellen Schulbuchverlage sind bislang kaum mehr als ein eBook. Das „eChemBook“ geht deutlich darüber hinaus, ist aber im Prototyp auch noch kein vollständig digitales Schulbuch. Der Entwicklungsaufwand ist enorm hoch und mit hohen Kosten verbunden – und, nicht zu vergessen, es gab bislang keine zwingende Notwendigkeit, digitale Materialien für die Schulen zu produzieren. Das hat sich mit Corona deutlich geändert, und wir sind hier jetzt unter neuen Vorzeichen unterwegs.
Das IWM erforscht auch, wie sich digitale Medien einsetzen lassen, um Lernenden eine individuelle Rückmeldung zu geben. Inwieweit kann künstliche Intelligenz ein guter Ratgeber sein?
S_ KI birgt ein großes Potenzial. Häufig ist es für die Lehrkräfte nicht ersichtlich, was der genaue Wissensstand jedes einzelnen Schülers, jeder einzelnen Schülerin ist. Hier kann künstliche Intelligenz als Unterstützung dienen. Aktuell entwickeln wir in einem Projekt, das Teil unseres Forschungsnetzwerks Mensch-Agenten-Interaktion ist, ein Werkzeug, das schriftliche Antworten von Lernenden auf Basis von Natural-Language-Processing-Methoden automatisch analysiert. Dieses Tool wird dann in eine Lernumgebung implementiert, die automatisches, an die Antworten der Lernenden angepasstes, Feedback liefert. Es wird interessant sein zu sehen, ob und inwieweit das die Selbstregulation des Lernprozesses unterstützt. Auch den ethischen Aspekt, der sich durch die kontinuierliche Überwachung von Lernprozessen ergibt, dürfen wir dabei nicht außer Acht lassen. Studien zeigen, dass die Lernenden keine Schwierigkeiten mit Kontrolle haben, solange sie Rückmeldungen bezüglich ihrer kognitiven Leistungen erhalten. Adaptive Systeme versuchen aber darüber hinaus, Langeweile oder Aufmerksamkeitsschwankungen zu diagnostizieren. Das wirft die Frage auf, wie weit es der künstlichen Intelligenz gestattet sein darf, hier Einblick zu nehmen. Fragestellungen wie diese spielen auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz solcher Technologien eine große Rolle.
Ist die Haltung zu digitalen Medien eine Generationenfrage?
S_ Der Gedanke ist naheliegend, aber mit Blick auf unsere Befunde bin ich da eher skeptisch. Es zeigt sich, dass ältere, erfahrene Lehrkräfte mit digitalen Medien einen qualitativ hochwertigeren Unterricht gestalten und grundsätzlich offener sind, Neues auszuprobieren. Sie beurteilen das digitale Medium hinsichtlich dessen, wie sie ihren Unterricht noch effizienter gestalten können. Hier spielt die bereits vorhandene Unterrichtserfahrung und die damit einhergehende Routine sicher eine große Rolle. Bei den Lehramtsstudierenden hingegen finden wir häufig, trotz ihres jungen Alters, viele Medienskeptikerinnen und -skeptiker vor. Sie nutzen zwar ganz selbstverständlich die gesamte digitale Klaviatur für sich, sind digitalen Medien im Unterricht gegenüber aber nicht sehr aufgeschlossen. Die Idee, dass da eine Generation nachkommt, die sich der Thematik ganz natürlich öffnet und zuwendet, sehen wir in unseren Forschungsdaten nicht.
Werden unsere Enkelinnen und Enkel weiter – im Wortsinn – in die Schule gehen? Wie wirklichkeitsnah ist Unterricht, der ausschließlich im digitalen Klassenzimmer stattfindet?
S_ Diese Diskussion ist zwar aktuell wieder lauter geworden, aber gerade Corona hat viele Begründungen dagegen geliefert. Schule bietet einen Schutzraum, der für viele Lernende eine Stabilität liefert, die zu Hause nicht vorhanden ist. Es geht hier auch um Persönlichkeitsbildung, darum, soziale Kompetenzen zu erwerben und soziale Interaktionsmöglichkeiten zu haben. Sicher wird es technologisch mit großen Schritten vorangehen und es ist anzunehmen, dass Schule sich räumlich verändert – weg von geschlossenen Klassenzimmern, hin zu mehr offenen Lernräumen. Aber ich bin überzeugt, dass es die Schule nach wie vor geben wird, einfach, weil sie so viel mehr ist als ein Lernort zur Wissensvermittlung.